Weihnachten ist ja überhaupt das Beste. Meine Meinung. Nicht nur wegen der Geschenke. Und der Aufregung. Und weil schulfrei ist. Und wegen der Süßigkeiten bis zum Anschlag. Und dem Aufbleiben, bis man umfällt. Weihnachten ist das Beste wegen dem Tag nach Weihnachten.
Am Tag nach Weihnachten schlafen Mama und ich, so lange es geht. Dann ziehen wir uns einen Pullover über den Pyjama und dicke Socken an die Füße und spielen Spiele. Oder lesen unsere neuen Bücher. Und ich telefoniere mit Otto und wir erzählen uns unsere Geschenke. Wir essen die Reste vom Heiligabend und der Kartoffelsalat schmeckt meistens besser, weil er einen Tag stand. Danach gucken wir einen Weihnachtsfilm oder zwei. Nachmittags machen wir den Weihnachtsbaum wieder an und überhaupt riecht die ganze Wohnung nach Tanne.
Normalerweise kommen Heiligabend meine Großeltern zu uns und Mamas Bruder mit seiner Familie. Es gibt Würstchen, Leberpastete, Forellen und so Sachen. Ich esse nur Würstchen. Wir singen und packen Geschenke aus und um halb elf fängt meine kleine Cousine an zu quengeln und meine Oma zu gähnen und mein Opa gießt sich noch ein Glas Rotwein ein. Aber um halb zwölf gehen alle.
Letztes Jahr wollten meine Großeltern aber Omas Schwester besuchen und mein Onkel ist seltsamerweise mit seiner Familie auf die Kanaren geflogen. Keine Ahnung, was er da wollte. Weg war er. Übrig blieben Mama und ich. Und obwohl Mama und ich es ja am ersten Weihnachtstag sehr gemütlich haben, fand ich die Idee, Heiligabend zu zweit zu feiern, nur so semi. Mama wollte erst ihre Freundin Birgit einladen und ich sah mich schon trübsinnig rumsitzen, während die beiden immer lustiger wurden und noch ein Glas Sekt tranken. Und noch eins.
Es war dann Otto, der die Idee hatte, dass wir zusammen feiern. Sandra und Felix fanden, es sei auch schon egal, weil sie eh so viele sind und sie würden sich freuen, wenn wir kämen. Wir sollten Kartoffelsalat mitbringen. Und um vier alle zusammen in den Weihnachtsgottesdienst gehen, wegen der besinnlichen Stimmung und weil Fritz und Franz im Krippenspiel mitspielten. Mama wollte erst nicht, weil sie es nicht so hat mit der Kirche. Aber sie tat es dann aus Neugier auf Fritz und Franz. „Meinst du, sie stecken die Kirche in Brand?“, fragte sie. Sagen wir mal so: Ich hätte jetzt nicht gewettet, dass sie es nicht tun.
Um halb vier standen wir pünktlich vor der Kirche. Wir waren nicht allein. Genauer gesagt: Ich habe noch nie so viele Menschen vor einer Kirche stehen sehen. Vor uns gab es schon Streit. „Ich hab dir doch gesagt, dass wir früher gehen müssen!“, sagte ein Mann in einem Nadelstreifen-Mantel zu seiner graugesichtigen Frau. Sie hielt zwei Kleinkinder in putzigen Mänteln an der Hand und sah aus, als wäre sie am liebsten in Tränen ausgebrochen.
Hinter uns pflügte eine rüstige Großmutter durch die Menge und rief: „Wir haben reservierte Plätze, unser Enkel spielt den Esel!“
„Selber Esel“, raunte der Nadelstreifen-Mann seiner Frau zu und wich keinen Schritt zur Seite. Ich wartete schon darauf, dass ihm die Oma ihre Handtasche über den Kopf zog, aber da ging die Kirchentür auf und die Leute drängten hinein, als ob es drinnen Gratis-Glühwein gäbe. Familie Engel war noch nicht da, doch wir beschlossen, nicht auf sie zu warten. Wir würden einfach Plätze reservieren.
Die Kirche war sehr schön geschmückt und ganz vorne stand ein riesiger Tannenbaum, an dem Strohsterne und Äpfel und rote Schleifen hingen. Wir fanden eine Reihe in der Mitte und legten unsere Mäntel so, dass noch ein paar Leute neben uns passten. Wir hatten allerdings nicht mit Mr. Nadelstreifen gerechnet.
„Können Sie mal rücken?“, herrschte er uns an.
„Wir warten auf Freunde. Deren Kinder spielen im Krippenspiel mit.“ Meine Mutter war ruhig und freundlich. Aber in ihrer Stimme hörte ich genau die Entschlossenheit, die ziemlich schnell ziemlich unangenehm werden kann.
„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“, sagte der Mann und machte Anstalten, sich an uns vorbei in die Bank zu schieben. „Aber Jochen!“, sagte die Frau. „Wenn doch Freunde kommen!“
Wütend drehte er sich um. „Ja, du wieder, klar! Dann sitzen wir eben ganz hinten.“ Dann stürmte er nach hinten. Die Frau sah uns entschuldigend an und lief ihm hinterher.
Die Glocken fingen an zu läuten und fast wäre es festlich geworden.
In diesem Moment traf Familie Engel ein. „Entschuldigung, wir mussten die Zwillinge noch …“, sagte Sandra, als sie in die Bank rückte. Alle Familienmitglieder sahen sehr weihnachtlich aus. Martha strahlte mit ihrem pinkfarbenen Lippenstift wie eine Leuchtreklame, Otto hatte die Haare gegelt, Sandra trug Christbaumkugeln als Ohrringe und Felix‘ Bart war so kurz, dass er nicht mehr wie ein kanadischer Holzfäller wirkte.
„Ihr seid ganz schön spät!“, sagte ich zu Otto.
„Du kannst dir nicht vorstellen, was bei uns los war“, sagte er und verdrehte die Augen. „Totale Hektik. Und dann üben die Zwillinge seit Tagen ihren Text!“
„Ist doch klar“, sagte ich.
„Ja“, entgegnete Otto. „Aber sie müssen nur ‚Halleluja‘ sagen!“
Dann begann das Krippenspiel. Fritz und Franz spielten zwei Engel. Offensichtlich waren sie in aller Eile verkleidet worden, denn Fritz hingen die Flügel schräg auf dem Rücken und Franz standen die Haare derart vom Kopf ab, dass man den darauf befestigten kleinen Heiligenschein kaum sehen konnte. Die beiden waren an den entgegengesetzten Seiten des Altarraums platziert. Gefühlt jede Minute rief einer von ihnen „Halleluja!“ und wedelte dazu mit einer kleinen Harfe (Fritz) und einem Palmwedel (Franz). Die rabiate Oma vor uns stand auf und begann zu filmen, denn ihr Enkel, der Esel, war mit lautem „Iii-aaah“ auf die Bühne gekommen. Währenddessen stolperte die Maria über ihren langen Rock und die Babypuppe, die Jesus sein sollte, flog im hohen Bogen ins Publikum. „Halleluja!“, sang Fritz, während der Joseph verzweifelt versuchte, den Jesus zu fangen. Natürlich musste ich lachen und nachdem ich damit angefangen hatte, pflanzte sich mein Lachen durch die ganze Kirche fort. Der Pfarrer sah verzweifelt aus, das muss man sagen. Die Orgel spielte laut „Kommet, ihr Hirten“ und während diese auf die Bühne kamen, begannen die Leute zu singen und hörten mit dem Lachen auf.
Schließlich knieten die Hirten an der Krippe, Jesus lag drin, Maria lehnte sich an Josef und es wurde gerade ein bisschen rührend. Von den Seiten näherten sich die Engel mit lautem „Halleluja!“. Dann fiel Fritz über den Esel, der etwas ungünstig vor der Krippe lag und verlor seine Flügel. „Mist!“, rief er und die Leute lachten wieder. Er klaubte die Flügel zusammen und stellte sich neben seinen Bruder, der erst „Hallelujah!“ schrie und dann etwas zu ihm sagte, das wahrscheinlich eher unweihnachtlich war. Jedenfalls nahm Fritz die Flügel und haute sie seinem Bruder über den Kopf, dabei sagte er laut „Da hast du Hallelujah!“. Die Heiligen Drei Könige versuchten, an den beiden vorbei zur Krippe zu kommen, aber Franz schlug gerade zurück und weil Fritz auswich, traf er einen König und der trat einen Schritt nach hinten und weil der Esel immer noch ziemlich ungünstig lag, fiel er einfach in den Weihnachtsbaum. Das bekam dem Weihnachtsbaum nicht gut. Und auch nicht der Krippe, den Hirten und Maria und Josef. Auf die fiel nämlich der Baum. Es klirrte und man hörte einige Schmerzensschreie, aber schließlich tauchten alle unversehrt zwischen den Zweigen auf. Otto hatte seinen Kopf zwischen den Händen vergraben. „Das ist so peinlich“, murmelte er immer wieder. Ich selber finde ja, dass er nichts für seine Brüder kann.
Das Krippenspiel war danach vorbei. Wir sangen alle zusammen „Stille Nacht“. Maria, Joseph, die Hirten, die Engel und der Esel verbeugten sich zwischen den Tannenzweigen. Das Publikum jubelte, obwohl ich fand, es hatte nicht so mega geklappt mit der besinnlichen Stimmung.
Als wir rausgingen, kamen wir an Familie Nadelstreifen vorbei. „Na, die Eltern würde ich mir ja gerne mal zur Brust nehmen“, sagte Vater Nadelstreifen. Felix, der zufällig neben ihm stand, wollte wissen, was er denn damit meinte und Vater Nadelstreifen sagte, dass ja wohl nur komplett unerzogene Kinder sich so benehmen würden und Mutter Nadelstreifen zerrte ihre Kinder hinter sich her, weg von den Männern, und Felix fing eine Diskussion über unerzogene Erwachsene an und Mr. Nadelstreifen bot ihm Prügel an und dann kam Sandra auch schon mit den Zwillingen, die süß und brav aussahen wie zwei Weihnachtsengel. „Halleluja!“, rief Franz und wir gingen.
Bei Familie Engel wurde es dann noch sehr lustig. Wir sangen Weihnachtslieder, aßen Hirsebratlinge mit Kartoffelsalat, spielten mit der neuen Carrera-Bahn der Zwillinge und beruhigten Martha, der ihre Mutter GENAU DEN FALSCHEN Pullover geschenkt hatte. Mama, Sandra und Felix tranken Sekt. Und dann noch einen Sekt. Und noch einen.
Ganz zum Schluss drückte mir Otto ein Päckchen in die Hand. Das Papier wellte sich und klebte an einer Seite, aber er hatte sogar eine Art Schleife drumgebunden. Eigentlich hatten wir verabredet, dass wir uns nichts schenken. Ich hatte auch nichts für ihn. Deswegen war es mir ein bisschen peinlich. Ich hielt das Paket unentschieden in der Hand. „Nun mach schon auf!“, sagte Otto und trat aufgeregt von einem Bein aufs andere. Als ich es öffnete, lag ein Comic darin, den ich mir schon seit Wochen wünschte. „Mann, Otto“, sagte ich. „Das ist … echt jetzt …“ Er strahlte so, als ob ich ihm was geschenkt hätte. Ich drückte seinen Arm ein bisschen und dann räusperten wir uns. Und fingen wir die Zwillinge ein, die kurz davor waren, auch noch den eigenen Weihnachtsbaum umzuschmeißen.
Es war schon ein Uhr nachts, als Mama und ich nach Hause liefen. Alles war still, nur hinter manchem Fenster funkelte noch die Weihnachtsbeleuchtung. Und das Tollste war: Es schneite. Unsere Fußabdrücke waren die ersten auf dem schneeweißen Bürgersteig.
„Das war jedenfalls ein echt aufregendes Weihnachtsfest“, sagte ich.
Mama lachte. „Und es hat sich doch gelohnt, in die Kirche zu gehen“, sagte sie. „Solche Weihnachtsengel habe ich noch nie gesehen.“
„Halleluja!“, antwortete ich.
Eins steht auf jeden Fall fest: Mein Weihnachtsengel heißt Otto.
Illustration: Barbara Jung