Matti und Otto bleiben zuhause

 

Otto hat gesagt, wenn das alles vorbei ist, zieht er von zu Hause aus. Und ehrlich,ich würde auch am liebsten  ausziehen. Weil wir erst zehn sind,vermietet uns leider keiner eine Wohnung. Aber ich würde es echt machen.

Otto hat das natürlich aus Gründen gesagt. Dass er am liebsten von zu Hause ausziehen würde, kommt, weil er jetzt immer zu Hause ist. Mit seiner Mutter Sandra, seinem Papa Felix, seiner Schwester Martha und natürlich mit Fritz und Franz, den Zwillingen des Grauens. Otto ist immer zu Hause, weil alle immer zu Hause sind. Damit wir nicht krank werden.

Die Lehrer. Die Eltern. Die Kinder. Die Verkäuferin von „Carl und Clärchen“. Mustafa vom Öko-Döner-Laden. Die Kindergärtnerin bei uns im Haus. Die alten Leute sowieso. Nur Hotte hat den Laden auf. Zum Glück, denn so kann ich ihn manchmal besuchen. Allerdings hat er üble Laune, weil er Fatima zurzeit nicht treffen kann.

Wir können uns nicht mehr auf der Kletterspinne treffen, weil die Spielplätze gesperrt sind, und wir können nicht Fußball spielen, weil der Fußballplatz gesperrt ist.

Sowieso dürfen wir nicht richtig raus, weil unsere Eltern nicht glauben, dass wir zwei Meter Abstand halten. Dabei würde ich es tun. Ich würde so ziemlich alles tun, um Otto zu sehen. Skypen geht nicht, weil wir nur die Uralt-Gurke von Computer haben. Meine Mutter hat zwar einen schicken neuen Laptop bekommen, damit sie zu Hause arbeiten kann. Aber ich darf nicht dran. Überhaupt darf ich fast nichts mehr, weil Mama ja jetzt den ganzen Tag da ist. IMMER. Ich kann nicht an die Playstation, ich darf nicht Fernsehen und eigentlich gar nichts, das Geräusche macht. Weil sie mitten in unserer Wohnung sitzt und Videotelefonate führt. Neulich musste ich mir eine Dreiviertelstunde verkneifen, aufs Klo zu gehen, weil ich beim Vorbeigehen hinter ihr im Bild gewesen wäre. Währenddessen sprach sie über Bilanzen und ein Buchhaltungs-Programm.

 Wahrscheinlich wäre alles besser, wenn Torben hin und wieder vorbeikäme. Aber Torben ist in QUARANTÄNE. Er hat bis zuletzt Notbetreuung in der Schule gemacht für die Kinder von Krankenpflegern und Ärztinnen und Busfahrern und Polizistinnen. Dann ist eine der Mütter krank geworden und das Kind auch und alle mussten zwei Wochen zu Hause bleiben. Torben ist zum Glück gesund. Ihm ist auch langweilig und er hat mir erzählt, dass er neulich fünf Stunden hintereinander Serien geguckt hat. Aber dass ich es nicht meiner Mutter erzählen soll. Ich habe ihm erzählt, dass ich noch nicht mal zwei Stunden Serien gucken darf und er hat mich sehr bemitleidet. In meiner Not habe ich wieder angefangen zu lesen.

 Gestern rief Otto mich abends an und erzählte mir von seinem Tag. Er hatte schon schlecht angefangen, weil Otto davon wach wurde, dass sich Sandra und Felix stritten, wer die Schulaufgaben mit den Zwillingen machen sollte. Zwar haben wir schulfrei. Aber nicht wirklich. Es ist wie Ferien ohne Ferien. Wir kriegen am laufenden Band Aufgaben geschickt, an denen wir arbeiten sollen. Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die haben ganz am Anfang mal eine Aufgabe geschickt und dann nochmal drei Wochen später. In der Zwischenzeit haben sie wahrscheinlich ihr Wohnzimmer renoviert oder sowas. Und dann gibt es welche, die – meine Meinung – erst jetzt richtig gerne Lehrer sind. Vielleicht, weil sie uns nicht sehen müssen. Die schicken uns rätselhafte links zu Datenräumen , in die wir uns einloggen sollen. Oder bitten uns, Programme herunterzuladen, die man nur mit der neuesten Computerversion öffnen kann. Die natürlich keiner hat. Wenn wir die Aufgaben dann nicht pünktlich abliefern, schreiben sie empörte mails an die Eltern und bitten darum, die Tage „so zu strukturieren, dass ein geordnetes Arbeiten der Schülerinnen und Schüler möglich ist“. Otto und ich haben sehr gelacht. Meine Mutter hat einen Wutanfall bekommen.

 Ottos Eltern sind etwas besser ausgestattet mit Computern, weil sie ja selber den ganzen Tag dran sitzen. Sie haben zwei ziemlich neue Laptops und einen Computer für den Rest der Familie. Einen. Für vier Kinder. Anfangs sagte Otto: „Es geht echt heiß her bei uns.“ Aber es hörte sich lustig an. Mittlerweile sagt er: „Es ist die Hölle.“

 An diesem Morgen jedenfalls ging es erstmal um die Zwillinge. Die Zwillinge sind schon zu normalen Zeiten mörderanstrengend. Doch zumindest kann man sie fünfmal um den Block und siebenmal zum Sport schicken. Sandra und Felix haben sie an einer Ganztagsschule angemeldet, die extra lange geht. Außer jetzt. Fritz und Franz sind fast den ganzen Tag zu Hause. Und das bedeutet in ihrem Fall: Sie hauen sich, sie ziehen Martha an den Haaren, verstecken Ottos Federmappe, jagen den Kater durch den Flur und malen ein Hüpfspiel auf den Holzfußboden. Dann spielen sie so laute Stopptanz, dass die Nachbarn von drei Etagen drüber anrufen. Außerdem wollen sie ständig essen. Nur Nudeln (Fritz) und: alles außer Nudeln (Franz).

 Zwischendurch sollen sie natürlich Hausaufgaben machen. Die Klassenlehrerin hatte eine Reihe schöner Arbeitsblätter geschickt, die sie am Computer ausfüllen sollten. Das Problem fing damit an, dass Martha unbedingt an den Computer wollte, weil ihr Mathelehrer eine komplizierte Aufgabensammlung zum Üben geschickt hatte und die Zwillinge bis um zwölf Deutsch- und Sachkunde-Aufgaben fertig haben mussten.

„Dann sollen sie eben deinen Laptop nehmen“, sagte Felix, woraufhin Felix und Sandra zu streiten anfingen. Otto wiederum hatte vergessen, seine Englisch-Aufgabe für Sir Bielenstein zu machen und stritt mit Martha darum, wessen Aufgaben wichtiger waren. Fritz hatte in der Zwischenzeit das Kakaopulver aus dem Schrank geholt, um für sich und seinen Bruder heiße Schokolade zu machen und Franz jagte genau in diesem Moment den Kater durch die Küche, so dass die beiden zusammenstießen, Fritz den Kakao fallen ließ, der Kater über und über mit dem Schoko-Pulver bedeckt durch die Wohnung rannte und schließlich in Ottos Bett flüchtete. Am Tag davor hatten sie alle Betten neu bezogen, was dringend nötig war und Ottos Bezug war hellblau. Gewesen.

 Als Sandra bemerkte, dass nicht nur das Sofa und der graue Teppich voller Kakaopulver waren, sondern auch der Küchenfußboden und die Zwillinge, fing sie an zu schreien.

„Und damit hörte sie erst auf, als sie zu weinen begann“, erzählte Otto. Nachmittags lachte sie dann zum Glück wieder, nachdem alle zusammen aufgeräumt hatten. Sie fand es sogar komisch genug, um ein Foto von der Kakao-Landschaft auf Instagram zu posten. Was Martha gar nicht komisch fand. Weil jetzt alle wussten „dass bei uns zuhause immer Chaos ist.“

 Der Einzige, der sich nicht beschwerte, war Mahmoud aka Bruda Berlin. Er hatte jetzt den ganzen Tag Zeit, an seinen Rap-Texten zu feilen und schon einen Virus-Rap geschrieben.

„Ich bin mir nicht so sicher, ob die Leute das Virus auch noch als Rap wollen“, sagte ich. „Wieso?“, fragte er. „Youtube ist jetzt voll von Leuten, die irgendwas in ihren Wohnzimmern vorlesen. Da ist ein Rap doch eine echte Abwechslung“. Einen Tag später schickte er uns den Text. Er ging so:

 Du zwingst uns alle rein,

lässt uns alleine sein,

machst starke Männer klein,

und schließt die Kinder ein.

 

Du hast die Krone auf

und dich hält keiner auf,

stoppst mich in meinem Lauf,

und ich bin so mies drauf.

 

Will keine Mutter sehen,

will ohne Vater gehen,

will auf der Straße stehen,

und meine Freunde sehen.

 

Du sollst jetzt endlich geh‘n,

woll´n dich nicht wiedersehen,

Eh, Alter, hau bloß ab

ansonsten mach ich schlapp!

„Digga, du kannst nicht schlappmachen“, schrieb ich ihm zurück. „Anderes Ende! Aber sonst okay.“ Zwei Stunden später schickte er den Text nochmal. Die letzten beiden Zeilen hießen jetzt:  „Eh, Alter, du bist Dreck, wir impfen dich bald weg.“

„Gut!“, schrieb ich. Und „Danke!“, antwortete Mahmoud.

 Einen Tag später war das Video online. Ich muss sagen: ein bisschen fehlten die gefährlichen Verwandten. Aber es dauerte trotzdem nur drei Stunden, bis er 20.000 Aufrufe hatte. „Gut gemacht!“, schrieb ich. „Ende gut, alles gut!“, schrieb Mahmoud zurück. Und damit hatte er recht.

 Ich dachte eine Weile darüber nach, wie es wohl in einer Weile sein wird. Dann rief ich Otto an.

„Otto“, sagte ich, „ich muss dir was Furchtbares erzählen.“

„Was ist passiert?“, fragte er und hörte sich erschrocken an.

„Ich freu mich auf die Schule“, sagte ich. „Auf die Lehrer. Und den Schulhof. Auf die zugige Sporthalle. Auf Mina. Und Louis und Jasper. Und sogar auf Jan-Niklas.“

„Na ja, jetzt übertreib mal nicht“, sagte Otto. Dann schwieg er einen Moment.

„Ganz ehrlich“, sagte er dann, „ich freue mich auch auf die Schule.“

„Was ist los mit uns?“, sagte ich.

„Wir sind schon zu lange zu Hause“, sagte er. „Aber bald ist es vorbei.“

„Ja“, antwortete ich, „Es ist bald vorbei.“

 

Bild: Barbara Jung