Frühling kostet

Es hat sich bei den Menschen die Idee festgesetzt, der Frühling sei die lebendigste, schönste, romantischste und beglückendste Jahreszeit. Da flattern die blauen Bänder, selbst die ungebührlichsten Triebe reimen sich auf Liebe und ein jedes findet das seine, während die knospende Natur sich zur Blüte entwickelt. Es soll übrigens Menschen geben, die angesichts der derart schwellenden Natur in tiefe Depressionen verfallen, aber das nur nebenbei.

Tatsächlich ruiniert uns der Frühling körperlich, seelisch und finanziell. Wer trotzdem meint, glücklich und sonnentrunken durch die Straßen der Hauptstadt wandeln zu müssen, wer benommen in fremde Gesichter grinst und sich der lauen Lüfte und der ersten brennenden Röte im Gesicht erfreut, der kann wohl nicht dafür.

Es gibt nichts anstrengenderes als den Frühling. Kaum sind die eiskalten Nächte vorbei und im noch kahlen Geäst der Büsche die ersten vorsichtig grünen Spitzen zu entdecken, muss der Mensch der frischen Jahreszeit sein äußerstes an körperlicher Leistungsfähigkeit darbringen, es ihr sozusagen opfern. Diejenigen, die sich im gemütlichen Winter ein feistes, weiches Bäuchlein zugelegt hatten, sehen sich nun mit unangenehm knackigen Figuren in unangemessen offensiver Werbung konfrontiert. Hier werden Lauftights offeriert, dort locken Joggingwesten und Super-Running-Schuhe im Sonderangebot – es bleibt dem aus der Form geratenen und derart umworbenen Großstädter nichts übrig als sich des Morgens in enges Nylon zu zwängen und schwer atmend dem Stadtpark entgegen zu laufen.

 

Und da treffen sie sich: die betont entspannt grüßenden Mittfünfziger in allermodernster Laufkleidung, deren hochrote, schweißbeperlte Gesichter das Schlimmste befürchten lassen; die molligen Frauen in praktischem Fleece, die tapfer gegen ihre runden Hüften anspazieren, den Blick starr auf die Pulsuhr gerichtet; die ganz Coolen in ihren alten Adidas Sambas und die weniger Coolen in ihren alten Turnschuhen. Und alle fühlen sie, wie ihr Leben sich mit dem Lauf ins Frühjahr gleichsam erneuert.

 

Diese Erneuerung dauert ungefähr drei Wochen.

 

In diesen drei Wochen werden Knie überlastet, Bänder überdehnt und Herzen überfordert. Von allen anderen Nebenwirkungen können Ärzte und Apotheker berichten. Der Frühlingssportler kommt gerne auch als Radfahrer oder Inlineskater daher. Frühlings-Radfahrer erkennt man übrigens ohne weiteres daran, dass sie die Verkehrsregeln beachten.

 

Eine weiteres Opfer dieser unbarmherzigen Jahreszeit ist der Gärtner. Denn während der eine oder die andere es sich in Straßencafés bei einem Glas Sekt in der milden Frühlingssonne wohl sein lässt, plagt sich jener in seiner grünen Stadtoase – sozusagen für uns alle. Mitfühlend begleitet vom „Primel-Report“ der Morgenpost, der vom „Großkampftag in den Gartenmärkten“ zu berichten weiß, erwirbt er Säcke voller Rindenmulch, Kanister voller Dünger und zentnerschwere Terracotta-Gefäße, die er nur mit Mühe in seinem Kofferraum unterbringt. Zu Hause angekommen, geht die Arbeit erst richtig los. Da wird gehäckselt und gerupft, werden Bäume beschnitten und Hecken gestutzt, Löcher gegraben und Spaliere befestigt, wird die Kletterrose in einem angemessen tiefen Erdloch vergraben und vor allem: Laub geharkt. Moderndes, braunes Laub auf hellen, sprießenden Beeten ist des Gärtners Unglück und seine Schande. Laub möchte entfernt sein, und wenn die Schulter noch so schmerzt und wenn die Hüfte noch so piekst. Eine Bekannte berichtete unlängst, sie sei auf siebzig Laubsäcke gekommen. Siebzig. Das muss man sich einmal vorstellen. Es wird einem der Sekt im Glase schal.

 

Es sei denn, man wohnt in Mitte und kennt Gärten nur aus der „Elle Decoration“. Doch auch die hippen Innenstädterinnen haben keinen Grund, sich zu entspannen. Es rückt die Zeit des – wärmebedingten – Entkleidens näher und mit ihr die Diät. Frauenmagazine verzeichnen im Frühjahr traditionell die auflagenstärksten und Anzeigen-trächtigsten Hefte, weil sie mit Nudel- und Asia-Diät die Hoffnung aufs Abnehmen ohne Hungern nähren. Also essen die Frauen im Frühjahr den Salat mit Zitrone und das Hühnchen ohne Nudeln und die Scampi ohne Öl und Schokolade nie! nie! nie! Sie picken schlecht gelaunt und gierig auf den Tellern ihrer Männer herum, die sich ohne schlechtes Gewissen die zweite Portion Sahnegeschnetzeltes genehmigen. Die Frauen darben. Vor Augen die 90-60-90er Bikinifigur, die sie in ihrem Leben nie hatten. Sie hungern einer Illusion entgegen. Womit wir unvermittelt bei den seelischen Kosten des Frühlings wären.

 

Denn der Frühling nährt die Illusion. Wenn schon die Natur sich so offensiv der Erneuerung widmet – warum sollte nicht auch der Mensch zu einem ganz Neuen Ich werden oder ein ganz Neues Du finden? Viel schlimmer, als festzustellen, dass der andere sich immer ähnlich bleibt, ist es allerdings, feststellen zu müssen dass man selbst auch bei offensivsten Veränderungsversuchen am Ende höchstens wie eine gut dekorierte Variante seiner selbst aussieht. Da mögen die Leggings noch so rosa sein und die Blusen noch so bunt. Alles neu macht der Mai? Ja, von wegen! Spätestens im heißen Juli merkt auch der gutgläubigste Monsieur, dass in jeder neuen Verpackung nur immer dieselbe Madame steckt.

 

Einer weiteren Illusion, die der Hauptstädter im Frühjahr gerne pflegt, ist die Annahme, dass er gar nicht im relativen Norden Europas lebt. In Wahrheit ist er   Römer! Neapolitaner! Madrilene! Wie sonst ist es zu erklären dass der Berliner sich auch dann schon in die Märzensonne setzt, wenn seine Kälte-klammen Finger noch kaum die Milchkaffee-Tasse halten können? Dass er beim ersten Sonnenstrahl den Bauchnabel unbedeckt lässt und beherzt auf seine Socken verzichtet? Die Römer und Madrilenen misstrauen dem Frühling bis spät in den April hinein und tragen dicke Daunensteppjacken und Kaschmirschals zu ihren schwarzen Sonnenbrillen. Während der Berliner schon wieder im Bett liegt, um seine Frühjahrserkältung zu kurieren, kann der Südländer weiter im Straßencafé sitzen und Campari trinken. So geht das.

 

Auch könnte man im Frühjahr leicht dem Eindruck erliegen, der Berliner sei plötzlich zu einem netteren Menschen geworden, weil die Knospen am Kastanienbaum vor Blütenfreude fast platzen und er sich auf Parkbänken genüsslich von den ersten Sonnenstrahlen durchwärmen lassen kann. Weit gefehlt! Hat sich der Hauptstädter erst an die Wärme gewöhnt, findet er es schon fast zu heiß und die milde Stimmung der ersten Sonnentage weicht dem nüchternen Blick auf die Realität. Die Hundescheiße, eben noch gefroren, stinkt wieder auf den Straßen; die Schlafzimmerfenster, eben noch geschlossen, offerieren unerwünschte Teilhabe am Liebesglück fremder Menschen; und die Mitbürger, eben noch winterlich verhüllt, zeigen nun, was sie an Bauch, Bein und Busen zu bieten haben. Nur – will man so was sehen?

 

Natürlich will man so was sehen. Mehr als die Hälfte der Deutschen bekennt sich dazu, im Frühling in Flirtlaune zu sein, wenngleich wiederum 53 Prozent angeben, in diesem Jahr „aus Angst vor einem Krieg“ weniger flirten zu wollen. Denen sei munter zugerufen: Make love, not war! Immerhin erwarten 38 Prozent, im Frühjahr die Liebe ihres Lebens zu treffen. Dabei gibt es, rein hormonell betrachtet, keine Frühlingsgefühle, sagt jedenfalls der Hormon-Experte Martin Reinecker. Diese seien eine Illusion und höchstens bei den Eskimos anzutreffen, die noch wissen, was echte Dunkelheit und Kälte bedeuten. Weil der Mitteleuropäer das nicht weiß, muss er seine Frühlingsgefühle anders stimulieren. Deswegen hat es seine Richtigkeit, wenn sich Sue aus Grünau und Daniela aus Köpenick in der BZ leichtbekleidet um den Titel der „Miss Frühling“ bewerben, und „prickelnde Aufnahmen mit Anspruch und Niveau“ von sich herstellen lassen. „Anspruch und Niveau“ in der BZ? Eben. Frühlingsillusionen.

 

Bleiben noch die finanziellen Kosten des Frühlings. Da der Frühling nach Erneuerung verlangt, kann der Mensch vor nichts halt machen. Im Grunde sollten die Banken den Frühlings-Kredit erfinden, falls sie das nicht schon getan haben. „Spüren Sie den Frühling? Wir finanzieren ihn“ oder so ähnlich. Gegen den Frühling ist Weihnachten geradezu ein Klacks. Niemand muss an Weihnachten seine Wohnung streichen, den Garten auf Vordermann bringen, sein Auto waschen, den Sommerurlaub bezahlen, sich eine modische Frisur schneiden lassen, der Datsche ein neues Dach decken und den Balkon bepflanzen. Kinder brauchen Kleider, kurze Hosen, Hemden, Turnschuhe, Sandalen und Inline-Skates in passenden Größen, von Teenagern mal ganz zu schweigen. Das Fahrrad muss zur Inspektion und der Körper zur Generalüberholung ins Fitness-Studio.

 

Was eine neue Garderobe angeht, ist der Mann vergleichsweise bescheiden. Er kauft sich eine Windjacke in lebhaftem Beige, wählt ein halbes Dutzend Polohemden in gedeckten Farben und entscheidet sich kühn für Freizeitschuhe in cognacfarbenem Wildleder. Für die dazugehörige Frau ist der Frühling die Stunde der Wahrheit. Warum ist der Rock aus dem vergangenen Sommer so eingegangen? Waren die Absätze letzte Saison etwas weniger spitz? Sind nicht die Sieben- Achtel-Hosen, die sie damals kaufte, völlig demodé und wenn schon nicht aus der Mode so doch immerhin allzu getragen? Wäre es nicht schön, das eine oder andere Blumen-Blüschen zu haben und da wir schon dabei sind auch ein Kleid mit weiterem Rock, wozu man natürlich eine passende Jacke bräuchte, die wiederum wohl leider nicht mit der Handtasche vom vergangenen Jahr korrespondiert?

 

Das alles kostet und zwar nicht zu knapp.

 

Zu guter Letzt raubt uns der Frühling auch noch eine Stunde Schlaf. Dass es immer noch Menschen gibt, die einen mehrere Tage lang mit der Frage langweilen, ob die Uhr denn nun vorwärts oder rückwärts gestellt werden muss, ob der Morgen jetzt heller oder die Tage länger werden – geschenkt. Aber sonst! Triefäugig schlurfen die unausgeschlafenen Berliner am Sonntag nach der Sommerzeitumstellung durch die Stadt; ruinieren Freundschaften, weil sie Stunden zu spät zu Essens-Einladungen erscheinen, verpassen den ersten Akt im Theater und den Beginn der Tagesschau. Um dann am Montag ihren Arbeitgeber durch immer noch vorhandene Restmüdigkeit um einen Teil ihrer Arbeitskraft zu bringen.

 

Es mag Menschen geben, die das alles für unwichtig halten. Die von der längsten Bank Berlins am Kollwitzplatz schwärmen und in träger Frühjahrsmüdigkeit die sonnengewärmten Tage verdödeln. Die sich an den grünen Schleiern über den Büschen freuen und ihren Kindern endlich das Fahren ohne Stützräder beibringen. Die es genießen, wie der blaue Himmel ihnen ein Lächeln ins Gesicht malt, das breit und breiter wird, so breit, dass sie es mit Leuten teilen, die sie gar nicht kennen. Die große Waffeln mit drei Kugeln Eis bestellen. Die ihre bunten Hosen aus dem Schrank holen und Arme voll Narzissen kaufen und Ostereier an die Birkenzweige hängen. Denen es ganz egal ist, was das alles kostet. Und die meinen, dass der Frühling die lebendigste, die schönste, die romantischste – ach, und überhaupt beglückendste Jahreszeit ist.

 

Die können wohl nicht dafür.