Mit zwölf war ich das erste Mal im Ausland. Ich fuhr mit meinen Eltern auf eine riesige Fähre und wurde in einem Land ausgespuckt, in dem man – aus meiner Sicht – falsch herum fuhr. In jedem Laden wurde ich „my love“ genannt und in Morcambe bekamen wir Zuckerstangen geschenkt, die so lang wie unsere Unterarme waren. Für einen Tag durfte ich eine englische Schule besuchen und lernte Ann kennen, mit der ich mir hinterher Briefe schrieb. Ich schloss England in mein Herz und wurde größer.
Mit knapp 16 fuhr ich das erste Mal mit einer Handvoll Freundinnen in den Urlaub fuhr. Neben der innerdeutschen mussten wir zwei weitere Grenzkontrollen passieren, bevor wir endlich in Italien waren und dort exakt all jene Dinge tun konnten, die unsere Eltern uns strengstens verboten hatten. Geld holten wir mit Reiseschecks, was ein ziemlich mühsames Unterfangen war, weil die Öffnungszeiten der italienischen Banken etwa so unübersichtlich waren wie die Abfahrtzeiten der italienischen Züge. Dafür bekamen wir dicke Bündel einer inflationär wirkenden Währung namens Lire in der Hand. Nach sechs wundervollen Wochen kam ich nach Hause, sprach einige Brocken Italienisch und hatte neue Freunde, die alle eines gemeinsam hatten: Sie kamen aus Europa. Das erste Mal in meinem Leben fühlte ich mich als Europäerin. Meine Welt war innerhalb von ein paar Wochen größer geworden.
Mit Anfang 20 ging ich nach Paris, um Französisch zu lernen, und kam als halbe Französin zurück – zumindest in der Selbstwahrnehmung. Europa hatte jetzt schon mehrere Heimaten für mich und bald wurde alles noch einfacher. Die Grenzkontrollen fielen weg. Irgendwann hatten wir sogar eine gemeinsame Währung. Das eigentlich Großartige aber war: Wir lebten friedlich zusammen. In diesem Kontinent, der jahrhundertelang von Kriegen und Grenzstreitigkeiten geprägt war, herrschte Frieden.
In den letzten Monaten begreife ich, wie dieses freie, gemeinsame Europa mich geprägt hat. Es ist vielleicht etwas naiv: Aber ich bin glücklich darüber. Und dankbar dafür. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass jemand freiwillig in Frage stellt, was so mühsam errungen wurde. Und ich fände es entsetzlich traurig, wenn Großbritannien aus der EU austritt.