Es war der Montag vor Weihnachten. Brandstetter stand am Fenster seines Abgeordnetenbüros und starrte in den diesigen Nachmittag. Die kahlen Bäume Unter den Linden waren mit Leuchtgirlanden geschmückt und wenn er genau hinsah, konnte er leichtes Schneerieseln erkennen. Auf dem Mittelstreifen zwischen den Bäumen war eine kleine Eisbahn aufgebaut. Brandstetter sah den Kindern zu, die dort ihre Runden drehten. Ein kleiner Junge mit dunklen Locken bannte seinen Blick. Er stürzte immer wieder auf das glatte Eis, stand auf, lief strahlend ein paar Schritte, fiel wieder und ließ sich von seiner Mutter hochziehen. Brandstetter dachte an seinen eigenen Sohn, Lukas, der das Eislaufen ohne ihn gelernt hatte – wie überhaupt fast alles. Seufzend wandte sich Brandstetter dem Fenster ab. Der Bildschirmschoner tauchte die Aktendeckel auf seinem Schreibtisch in blaues Licht, sonst war das Zimmer dunkel. Brandstetter wollte gerade seine Schreibtischlampe anknipsen, als es klopfte. Er wunderte sich. Seine Sekretärin war bereits gegangen und er erwartete keinen Besuch. Ohnehin waren die meisten seiner Kollegen schon im Weihnachtsurlaub. Selbst Roth hatte sich bereits von ihm verabschiedet und etwas von „Weihnachtsgeschenke besorgen“ gemurmelt, bevor er aus seinem Büro eilte. Brandstetter wollte gerade „Herein!“ rufen als die Tür sich öffnete und ein Mann sich vorsichtig ins Zimmer schob. „Guten Tag“, sagte der Mann. „Guten Tag“ antwortete Brandstetter.
Der Mann war von unbestimmtem Alter, hatte die Lebensmitte allerdings hinter sich gelassen. Er hatte kräftig rote Wangen wie Menschen, die viel im Freien arbeiten. Sein grauer Vollbart war sorgfältig gestutzt und seine auffallend hellblauen Augen waren von Lachfältchen umgeben. Er trug einen schwarzen, etwas schäbigen Anzug, und ein weißes Hemd mit abgestoßenem Kragen. Die Anzughose steckte in schwarzen, fellbesetzten Stiefeln. Der Mann trat jetzt einen Schritt näher, wies auf die Sitzecke und fragte: „Darf ich?“ Brandstetter nickte, eher automatisch, um im selben Moment zu fragen: „Wer sind Sie?“ Der Mann hatte sich gesetzt, was seinen Bauch eindrucksvoll zur Geltung brachte. Er rückte ein wenig auf dem kantigen Sofa hin und her und sagte schließlich: „Ich bin Lobbyist.“
Brandstetter grinste. Natürlich. Lobbyisten belagerten ihn den lieben langen Tag. Sie schickten Einladungen zu Informationsveranstaltungen, schleppten ihn auf Sektempfänge, luden ihn zu teuren Mittagessen ein und machten hin und wieder Angebote, die unmoralisch zu nennen noch untertrieben gewesen wäre. Manche von ihnen traf er sogar privat; andere standen auf der schwarzen Telefonliste, die seine Sekretärin auf ihrem Schreibtisch liegen hatte. Wer auf dieser Liste stand, wurde unter keinen Umständen zu ihm verbunden. Meist handelte es sich dabei um Leute, deren erstaunlicher Rededrang von Brandstetter nur durch grobe Unhöflichkeit zu unterbrechen war und deren Hartnäckigkeit die Bedeutung ihrer Informationen bei weitem überstieg. Da Brandstetter ein höflicher und friedfertiger Mann war, vermied er den Kontakt mit dieser Sorte , wo immer es möglich war. Was jedoch die Angenehmen und die Unangenehmen verband, war, dass sie sich niemals Lobbyisten nennen würden. Lobbyismus war ein so hässliches Wort für einen doch ganz normalen und demokratischen Vorgang. Sie behaupteten, Interessen zu vertreten. Im Grunde genau die Interessen, die auch Brandstetter selbst im Wirtschaftsausschuss vertreten müsse, da er ja Volksvertreter sei und die Interessen der Interessenvertreter dem Grunde nach stets auch im Interesse des Volkes lägen. Logisch kombiniert sei es also in seinem, Brandstetters, Interesse, sich zum Interessenvertreter der Interessenvertreter zu machen. Dieser Mann aber, der jetzt auf Brandstetters Couch saß – warum hatte Brandstetter eigentlich noch nicht den Sicherheitsdienst gerufen? – dieser Mann behauptete, Lobbyist zu sein. Also war er keiner.
„Sie sind kein Lobbyist“, sagte Brandstetter. „Ich würde mich wirklich freuen, zu erfahren, wer Sie sind, aber Lobbyist sind Sie nicht.“ „Doch“ beharrte der Mann. „Ich bin Weihnachtslobbyist.“ „Hören Sie“, sagte Brandstetter, „mein Schreibtisch ist voll, wie Sie sehen, meine Familie wartet auf mich und in drei Tagen ist Weihnachten.“ „Eben“, sagte der Mann. „Was, eben?“, fragte Brandstetter. „In drei Tagen ist Weihnachten, darum bin ich hier. Nur an Weihnachten führen mich meine Geschäfte in die Hauptstadt.“ Brandstetter atmete tief durch und schwieg. Der Mann schwieg ebenfalls und sah ihn auf eine Art an, die nicht zu seinem abgetragenen Anzug und dem kaputten Hemdkragen passte. Er schaute wie ein Mann von Macht und Einfluss; wie ein Mann der um seine Bedeutung weiß und sich sicher sein konnte, dass andere das ebenfalls taten. Der Mann guckte wie Brandstetters Fraktionsvorsitzender. In einem Impuls, den Brandstetter später genau darauf zurückführen sollte, setzte er sich in den Sessel, der dem Mann gegenüber stand und sagte. „Okay. Erklären Sie mir was Sie wollen.“ „Ich möchte ein Weihnachtsgesetz“, sagte der Mann. „Ein Weihnachtsgesetz“, wiederholte Brandstetter. „Ja“, sagte der Mann. „Und was genau soll das sein, Ihr Weihnachtsgesetz?“, fragte Brandstetter. „Na ja, ich dachte an ein Gesetz, das alles rund um Weihnachten regelt“. „Zum Beispiel?“, fragte Brandstetter. „Zum Beispiel hätte ich gerne, dass der Verkauf von Schokoladenweihnachtsmännern vor November verboten wird.“ Brandstetter dachte an seinen Supermarkt, wo dieses Jahr an einem heißen Augusttag die ersten Weihnachtsmänner im Regal gestanden hatten, und musste unwillkürlich nicken.
Der Mann fühlte sich dadurch offensichtlich ermutigt und fuhr fort: „Das gleiche gilt für das Aufstellen von Weihnachtsbäumen und die Herstellung von Lebkuchen. Wer isst schon gerne vertrocknete Lebkuchen an Weihnachten.“ Brandstetter seufzte. „Guter Mann, wir haben einen freien Handel. Ich kann niemandem vorschreiben, ab wann er Schokoladenweihnachtsmänner verkauft.“ „Sie sind Politiker“, entgegnete der Mann. „Sie machen die Gesetze. Natürlich können Sie das vorschreiben. Sie schreiben den Leuten doch auch vor, dass an Feiertagen kein Flohmarkt stattfinden darf!“ „War’s das?“, fragte Brandstetter. „Natürlich nicht!“, rief der Mann. „In den Familien muss gesungen werden, Fernsehen wird verboten und außerdem“ – er machte eine bedeutungsvolle Pause – „verlange ich selbstgebackene Plätzchen und echte Kerzen am Weihnachtsbaum.“ Brandstetter war jetzt endgültig überzeugt, dass er es mit einem Verrückten zu tun zu hatte. Es war wohl doch besser, den Sicherheitsdienst zu rufen. Er erhob sich aus seinem Sessel, doch da rief der Mann: „Halt!“ Brandstetter ließ sich wieder fallen. „Das Wichtigste, ja überhaupt das Allerwichtigste, kommt ja noch“, sagte der Mann. Wahrscheinlich, dachte Brandstetter, würde er jetzt darauf bestehen, dass es am Heiligen Abend schneite. „Das Wichtigste ist, dass es weniger Geschenke gibt!“, rief der Mann. „Weniger Geschenke“, sagte Brandstetter. „Klar. Wir machen ein Gesetz in dem festgelegt wird, wie viele Geschenke jeder bekommt. Sind Sie irre, Mann?“
„Aber es ist wichtig“, sagte der Mann, jetzt etwas verzweifelt. „Weil die Kinder so viele Geschenke bekommen, erkennen Sie ihre Herzenswünsche nicht mehr.“ „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten“, sagte Brandstetter. „Aber Sie scheinen doch eine recht romantische Vorstellung von Weihnachten zu haben. Kerzen, Lieder, selbstgebackene Plätzchen, Herzenswünsche… Für die meisten Menschen ist Weihnachten eine Abfolge arbeitsfreier Tage, an denen man sich im günstigsten Fall nur an Heilig Abend mit der Familie streitet und endlich mal acht Stunden hintereinander Fernsehen kann.“ „Aber das ist es doch gerade!“, rief der Mann. „Und es wird immer schlimmer. Wie soll ich denn noch arbeiten, wenn alles verschwindet, was an Weihnachten schön ist?“ „Ich weiß ja nicht, in welcher Branche Sie tätig sind“, sagte Brandstetter. „Aber im Prinzip ist unsere Wirtschaft mit dem Weihnachtsgeschäft recht zufrieden. Insbesondere die Elektronikbranche hat mir gerade neulich einen interessanten Überblick über die Entwicklung der Umsatzzahlen im vierten Quartal….“ Weiter kam er nicht, denn es klingelte etwas, das sich wie helles Glockenläuten anhörte und einem goldenen Handy entstammte, das der Mann jetzt aus der Tasche zog. Der Mann horchte aufmerksam in sein Telefon, fummelte einen zerknitterten Zettel aus der Anzugjacke und schrieb mit einem Bleistift ein Wort auf den Zettel, der bei näherem Hinsehen eine Art Liste war – mit Namen und Adressen, hinter denen jeweils ein Wort stand. „Immer diese Bestellungen in letzter Minute“, brummte er. „Gab’s früher auch nicht. Früher wurden vier Wochen vor Weihnachten die Wunschzettel fertig gemacht.“ Damit stopfte er den Zettel zurück in seine Anzugjacke. „Wo waren wir stehen geblieben?“
„Bei Ihrer Branche“, sagte Brandstetter. „Sie hatten mir noch gar nicht mitgeteilt, was genau Sie mit Weihnachten zu tun haben.“ „Ich betreibe eine Art Lieferservice“, sagte der Mann. „Ah, Logistik!“, sagte Brandstetter. „Sehr gute Entwicklung, besonders seit es das Internet gibt.“ „Hören Sie“, sagte der Mann jetzt etwas ungeduldig, „ich wollte mich mit Ihnen eigentlich über Weihnachten unterhalten. Was halten Sie von meinen Vorschlägen?“ „Wissen Sie“, sagte Brandstetter. „ich kann Sie verstehen. Sie sehnen sich nach einer heilen Welt. Einem Weihnachten wie wir es als Kinder kannten. Aber so etwas kann man nicht per Gesetz verordnen. Da könne man den Leuten genauso gut vorschreiben, dass sie an den Weihnachtsmann glauben müssen.“ „Sie glauben nicht an den Weihnachtsmann?“, fragte der Mann scharf. „Äh…, nein…, natürlich nicht“, sagte Brandstetter, „aber was ich noch sagen wollte….“
„Sie glauben nicht an den Weihnachtsmann!“, donnerte der Mann jetzt mit einer Stimme, die Brandstetter zum Schweigen brachte. „Das ist sehr, sehr interessant, Herr Brandstetter. Wer hat denn Ihrem Sohn Lukas im vergangenen Jahr das rote Fahrrad geschenkt, das er sich so glühend gewünscht hat?“ „Ich…äh, meine Frau…,“, sagte Brandstetter etwas perplex. „Nehme ich jedenfalls an.“ „So. Nehmen Sie an. Fragen Sie mal Ihre Frau. Und bei der Gelegenheit können Sie auch gleich nachfragen, was es mit der Uhr auf sich hatte, die Sie sich so dringend gewünscht hatten und die ihre Frau so hässlich fand.“ Brandstetter starrte ihn verblüfft an. Woher wusste der Mann von der Uhr? Er hatte sie bei einem Einkaufsbummel wenige Wochen vor Weihnachten gesehen und seiner Frau einen diskreten Hinweis gegeben, aber Marie fand die Uhr zu teuer und zu sportlich. Umso erstaunter war er gewesen, als die Uhr dann doch unter dem Weihnachtsbaum lag. Der Mann erhob sich jetzt mühsam von der flachen Couch. Er sah müde aus. „Ich muss leider gehen, Herr Brandstetter, ich habe noch viel zu tun“, sagte er. Brandstetter erhob sich ebenfalls. Er hatte das unangenehme Gefühl, dem Mann etwas schuldig geblieben zu sein. „Irgendwann wird es so sein, dass die Kinder ihre Wunschzettel im Kaufhaus abgeben, und die Geschenkpakete fertig geschnürt zu Hause abgeliefert werden“, sagte der Mann. „Aber so lange ich es kann, werde ich das verhindern. Und Sie sollten mir wirklich dabei helfen. Denken Sie darüber nach.“ Damit ging er zur Tür.
Brandstetter ging ihm hinterher. „Hören Sie, Herr…“ „Santer. Klaus Santer.“ „Herr Santer. Ich werde sehen, was sich tun lässt. Vielleicht wenn Sie noch mal beim Präsidenten des Einzelhandelsverbandes vorbeigingen…“ „Da war ich schon. Gestern.“, sagte Santer. Er stand jetzt in der Tür und drehte sich noch einmal zu Brandstetter um. „Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben“, sagte er. „Und – schöne Weihnachten, Herr Brandstetter.“ „Schöne Weihnachten“, sagte Brandstetter und die Tür schloss sich hinter seinem Besucher. Einen Moment stand er unschlüssig mitten im Zimmer. Dann klingelte das Telefon. „Marie!“, rief Brandstetter, „ja….ja, ich weiß. Ich hab noch ein bisschen was wegzuarbeiten. Wahrscheinlich nehme ich den Zug um halb elf. Grüß den Kleinen von mir. Und sag mal Marie – dieses rote Fahrrad im letzten Jahr – das hattest Du doch besorgt, oder? Nicht… Aha… Hatte ich aus Berlin mitgebracht. Na. Jetzt, wo Du es sagst…. Natürlich…. Ja, ich freu mich auch. Bis später.“ Brandstetter legte den Hörer auf und stürzte zum Fenster. Auf dem Mittelstreifen sah er seinen Besucher entlang laufen. Über den Stiefeln trug er jetzt einen dicken dunkelroten Wollmantel mit weißem Pelzkragen. Als er an der Eisbahn vorbeikam strich er behutsam dem kleinen Jungen über die dunklen Locken. Seine Mutter lächelte und schaute dem alten Mann hinterher, der sich langsam, ganz langsam, im Schnee aufzulösen schien.
Copyright: Silke Lambeck
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